Wieder nahmen sich zwei Topmanager das Leben. Konzernlenker sagen es, Studien belegen es: Das Leben der Chefs wird härter.

Wieder nahmen sich zwei Topmanager das Leben. Konzernlenker sagen es, Studien belegen es: Das Leben der Chefs wird härter. VON DORIT KOWITZ, ROMAN PLETTER, ROMAN PLETTER UND PEER TEUWSEN

DIE ZEIT Nº 07/2014

15. Februar 2014

Auch dieses Interview ist ein Kampf, den er gewinnen muss. Er gegen den Moderator des Schweizer Fernsehens. Carsten Schloter, Chef der Swisscom, begegnet den aggressiven Fragen mit Charme, aber auch Getriebenheit, wie allem im Leben: der Einführung neuer Preissysteme, dem Umbau des Konzerns, Rennen mit dem Mountainbike, Rennen mit Skiern, Rennen zu Fuß. Am Ende dieser Wettkämpfe heißt der Sieger meist Schloter. So stellt der Befragte Schloter den Manager Schloter dar.

Doch als der Moderator ihn nach der größten Niederlage seines Lebens fragt, geschieht etwas Überraschendes. Schloter sagt: „Ich habe drei kleine Kinder, und ich lebe getrennt. Ich sehe die Kinder alle zwei Wochen. Das vermittelt mir immer wieder Schuldgefühle.“

Ein paar Monate später bringt sich Schloter um.

Der Suizid des ehemaligen Swisscom-Chefs ist nun ein halbes Jahr her. Kurz darauf tötete sich auch Pierre Wauthier, Finanzchef der Zurich-Versicherung. In einem Abschiedsbrief schrieb der Franzose vom Druck durch den Verwaltungsrat seines Unternehmens.

Die vergangene Woche rief die tragischen Tode der Männer in Erinnerung. Es wurde bekannt, dass der ehemalige Deutsche-Bank-Manager William Broeksmit sich in London erhängt hatte. Am Dienstag stürzte sich dann ein hochrangiger Mann der Bank J. P. Morgan vom Dach der Londoner Firmenzentrale.

Wenn ein Mensch keinen anderen Ausweg mehr sieht als den Tod, hat diese Entscheidung zumeist viele Ursachen – und es geht um sehr Persönliches. Aber die Schicksale dieser Männer ließen auch einen ungewohnten Blick zu in die Vorstandsetagen großer Unternehmen, deren Bewohner sonst mit Phrasen öffentlich in Erscheinung treten: Das Geschäft entwickelt sich glänzend – und ich, der Vorstand, blicke optimistisch in die Zukunft, die ich selbst verkörpere.

Der Druck ist in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren enorm gewachsen. Investoren fordern mehr denn je gute Zahlen, übers Internet baut sich Kritik in Minuten auf.

Eine Folge: Bis 1990 waren Chefs in den 50 größten deutschen Industrieunternehmen durchschnittlich zehn Jahre im Amt. Im Jahr 2005 hielten sie sich dort nur noch siebeneinhalb Jahre, hat die Sozialwissenschaftlerin Saskia Freye errechnet. Eine Erhebung der Beratung Booz & Company deutet darauf hin, dass dieser Trend sich international bis heute verschärft hat. Demnach sind Industrien im technischen Wandel besonders betroffen. So wurde jeder vierte Vorstandschef in den größten Telekommunikationsunternehmen der Welt 2012 ausgewechselt.

Diese Entwicklung geht einher mit einer enormen Aufmerksamkeit für den CEO. „Spitzenmanager haben bis in die 1990er Jahre in einer von der Außenwelt weitgehend immunisierten Umgebung gelebt“, sagt Eugen Buß, der deutsche Vorstandsetagen in einer groß angelegten Studie soziologisch vermessen hat. Heute „belastet der gesteigerte öffentliche Wahrnehmungsdruck nach zahlreichen moralischen Verfehlungen viele Manager. Sie müssen nun aus ihrer Sicht rein ökonomische Fragen auch nach moralischen Kriterien bewerten.“

Der Spitzenmanager braucht heute Zustimmung von außen. Doch die Gesellschaft will ihn nicht exkulpieren, wenn er Menschen entlässt – und dabei hohe Boni kassiert. Die wachsende Kluft zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung führt dazu, dass Spitzenmanager sich abkapseln oder sich selbst verlieren – und stürzen. Schlimmstenfalls in den Tod.

Die Frage ist: Was macht der Druck aus Chefs, die das Schicksal von Millionen Beschäftigten beeinflussen?

Der Weg in die Teppichetage der Lufthansa führt über zwei Schleusen, eine am Eingang, eine oben hinter dem Aufzug. Es ist unheimlich still dort, als habe jemand einen Stummschaltknopf gedrückt, der den Lärm draußen vor der riesigen Glasfront abschaltet.

Christoph Franz, 53, ist hier der Chef. Seine Machtfülle kann man beziffern: Er ist Herr über 120.000 Mitarbeiter, 100 Millionen transportierte Passagiere pro Jahr, 30 Milliarden Euro Umsatz. Nun hat Franz an einem Konferenztisch in seinem Büro Platz genommen und spricht über Druck – und er weiß, was das heißt.

Getrieben von Billiganbietern wie Ryanair auf der einen und arabischen Luxusfluglinien auf der anderen Seite, hat Franz den größten Konzernumbau seit der Lufthansa-Privatisierung durchgesetzt. Als er vor wenigen Monaten seinen im Frühjahr anstehenden Wechsel an die Spitze des Schweizer Pharmariesen Roche verkündete, schrieben die Leute von der Gewerkschaft einen offenen Jubelbrief, in dem es heißt, Franz sei „durch sein Handeln gerade bei der Gewerkschaft und bei den Kunden komplett gescheitert“. In der Führungsriege sprachen manche öffentlich von „Fahnenflucht“.

„Die Belastungen, die man in einer solchen Position ertragen muss, kann man nur aushalten, wenn man sich mit anderen austauschen kann“, sagt Christoph Franz. „Wirklich sprechen kann man aber nur mit dem Ehepartner und mit dem einen oder anderen Freund, zum Beispiel aus dem Studium. Dazu kommen einige wenige Mitarbeiter.“

Vor einigen Jahren war Franz in einer Situation, in der die Belastung ungleich größer war als bei der Lufthansa. „Ich musste die Bahn von einem Tag auf den anderen verlassen. So war es halt.“

Wer will Führungsroboter sein?
Mit 39 Jahren war Franz Vorstandsmitglied bei der Deutschen Bahn geworden, zuständig für den Personenverkehr. Konzernchef Hartmut Mehdorn attackierte ihn, und ein neues Preissystem in Franz’ Verantwortungsbereich sorgte für Unmut. „Ich habe eine Familie mit fünf Kindern“, sagt Franz. „Für mich schien damals klar, dass ich kaum mehr die Chance bekommen würde, eine vergleichbare Aufgabe wahrzunehmen.“

Franz hatte als Bundesbahn-Vorstand nicht genug verdient, um aufzuhören. Gleichwohl will er keine Existenzängste oder Selbstzweifel gehabt haben: „Man darf mal scheitern, man kann mal scheitern, aber sich auf das Scheitern einstellen, das geht nicht.“ Umso mehr leidet der gläubige Katholik, der nach einem Jahr Arbeitslosigkeit die Fluglinie Swiss sanierte und sich so für die Lufthansa empfahl, darunter, dass viele Menschen mit dem Berufsstand des Managers moralisches Scheitern verbinden. „Die Schwächen von Menschen an der Spitze werden heute aufs Silbertablett gehoben, und dann schalten die Medien ihre Scheinwerfer an. Wir sind zu einer Gesellschaft der Entrüsteten geworden“, sagt Franz. „Da muss man doch mal fragen: Wer will Führungsroboter und Teflon-Menschen, die keinerlei Ecken und Kanten mehr haben?“

Franz ist nicht untypisch darin, dass er an der moralischen Verurteilung seiner Arbeit leidet. „Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind Spitzenmanager relativ religiös“, sagt der Soziologe Buß. „Sie haben in der Regel eine betont religiöse Atmosphäre in ihren Elternhäusern erfahren. Und nun sehen sie sich mit Entlassungen oder moralisch fragwürdigen Produkten konfrontiert, was sie in einen Konflikt stürzt. Ein Drittel der Manager in meiner Studie sagt dezidiert: Wenn man stets nach moralischen Maximen handelt, kommt man nicht an die Spitze.“

Keine Managergruppe ist in den vergangenen Jahren so sehr unter Rechtfertigungsdruck geraten wie die Banker. Was sie taten und was sie reich machte, war den Augen der Öffentlichkeit lange verborgen. Doch seit Betrügereien an den Finanzmärkten öffentlich wurden, sprechen die Spitzen der Banken landauf, landab von Kulturwandel.

Mittendrin in diesem Wandel saß bis vor Kurzem Oswald Grübel. Der 70-Jährige war CEO von Credit Suisse und bis 2011 Vorstandsvorsitzender der Großbank UBS, dann trat er zurück: Ein Händler hatte 2,3 Milliarden US-Dollar verspekuliert. Heute verfolgt Grübel die Märkte von einem Büro aus, das bloß hundert Schritte vom Züricher Paradeplatz entfernt liegt, von seinem früheren Arbeitsplatz. Grübel ist einer, der sagt, was er denkt.

Was machte Sie als CEO aus, Herr Grübel?

„Ich bin keiner, den man in normalen Zeiten zum CEO macht. Ich wollte immer unabhängig sein. Ich bin nicht jemand, den man rumkommandieren kann. Aber es waren in der Finanzbranche keine normalen Zeiten, also wollten die Verwaltungsräte mich.“

Sind denn moderne, konsensorientiere Vorstandschefs nicht viel besser?

„Das weiß ich nicht. Meiner Meinung nach kommt jetzt die CEO-Generation der Bürokraten und der Juristen. Deren oberstes Credo lautet: Nur nichts falsch machen.“

Was hat sich verändert am Vorstandsein?

„Ich war einer der letzten CEOs der alten Schule. Wir kannten nur den Aufbau, das Wachstum. Nichts war uns groß genug. Das hat Spaß gemacht. Aber das Wachstum hat auch unsere Fehler verdeckt.“

Und heute?

„Heute möchte ich nicht mehr CEO werden. So einen Job wollen heute nur wenige machen, auch weil man bei Fehlern mit rechtlichen Konsequenzen rechnen muss. In den Banken arbeitet heute ein Drittel der Angestellten in der Rechtsabteilung, im Controlling oder im Compliance. Die Regulierer sind dabei, die Banken zu schrumpfen. Das wird das Wirtschaftswachstum beschränken.“

Die modernen CEOs sagen, dass sie das schaffen – und gehen regelmäßig joggen. Klingt doch gut.

„Ich bin eine robuste Natur, aber der Job eines CEO ist ungesund. Hätte ich noch joggen müssen, hätte ich gar keine Zeit mehr zum Schlafen gehabt. Als CEO ist es unmöglich, Familie und auch noch Freizeit zu haben – wenn man den Job richtig machen will. Wenn ich nach Hause kam, kannte mich nicht einmal mehr unser Hund.“

Wird sich die Kultur nicht wandeln, wenn künftig mehr Frauen in den Führungsetagen sind?

„Die Führungsetagen werden noch lange eine Männerwelt bleiben, es sei denn, Gesetze ändern das. Die Frauen, die ich in Führungspositionen berief, sind öfter als Männer an einen Stresspunkt gekommen, an dem sie von ihren Emotionen überwältigt wurden. Das geht nicht, wenn man eine solche Verantwortung hat. Das ist ein Zeichen der Ratlosigkeit.“
So weit Grübel, der CEO als Superman. Mancherorts setzt sich aber ein aufgeklärteres Verhältnis zum Umgang mit Druck durch. Geschichten wie die von Peter Weber* in Bonn deuten darauf hin.

In der Nacht zum 4. Januar 2012 wacht Weber in seiner Pendlerwohnung auf und kann sich kaum bewegen, kann kaum sprechen, kaum denken. Er sagt, sein Körper habe sich angefühlt wie das, was man von Schlaganfallpatienten hört. Irgendwie schafft es Weber, einer Freundin eine SMS zu schreiben. „Mir war plötzlich alles egal, das erste Mal in meinem Leben. Ich wollte nur noch irgendwohin, wo mir geholfen wird“, sagt Weber. Freunde bringen ihn in die Gezeiten Haus Klinik in Bonn. Weil nicht gleich ein Platz frei ist, fängt er an zu weinen.
Je höher die Etage, desto höher der Preis
Peter Weber ist heute verantwortlich für das deutsche Personal eines Konzerns mit gut sieben Milliarden Euro Umsatz und 6.500 Mitarbeitern. Er wollte erst seinen echten Namen in der Zeitung nennen, dann der Rückzieher. Er fürchtet sich vor Stigmatisierung.

Dabei findet Weber, dass ihm nichts Besseres passieren konnte als der Zusammenbruch. Seine erste Ehe war gescheitert, er versorgte damals drei Kinder und zwei Frauen. Alle drei bis vier Jahre wechselte er den Job, er wollte mehr Verantwortung, mehr Macht. „Das bekommt so eine Eigendynamik“, sagt er heute.

Irgendwann ist Weber Personalleiter, verantwortlich für 6500 Mitarbeiter auf drei Kontinenten. Er will es allen recht machen, den mittlerweile fünf Kindern, der Partnerin, den Vorstandskollegen. Auch die zweite Ehe zerbricht. Im Unternehmen findet Weber Anerkennung und Bewunderung. Er verliebt sich wild in eine Kollegin, „wie ein Teenager“. Er bemerkt nicht, dass ihn diese Amour fou auslaugt. Die neue Liebe gibt ihm keinen Halt und keine Kraft.

Es sind Parallelen zum letzten Lebensabschnitt von Carsten Schloter. Die Ausgebrannten suchen Trost in den Armen anderer und finden ihn nicht, weil sie vor sich selbst fliehen. Auch Weber hat einmal den Gedanken, alles zu beenden, wie Carsten Schloter es tat. Doch dann geht er in die Klinik.

Heute weiß Weber, dass es auf dem Weg an die Spitze „einen Punkt gibt, ab dem nicht mehr so sehr die fachliche Eignung über dein Fortkommen entscheidet, sondern, ob du bereit bist, Politik im Unternehmen zu machen“. Sonst sei der Weg nach oben versperrt, oder man halte es oben nicht aus. Viele Chefs nehmen diese Grenze nicht wahr, überschreiten sie laufend in täglichen Machtkämpfen, für die sie nicht gemacht sind. Unbemerkt zehrt das an der Substanz.

Als Weber nach sieben Wochen in den Konzern zurückkehrt, nimmt er sich eine schöne Wohnung und richtet sie liebevoll ein. Er kocht, er macht Sport und findet eine Gefährtin. Er ist jetzt als Personalchef nur noch zuständig für die Mitarbeiter in Deutschland. Man lädt ihn nicht mehr wie früher zu allen Treffen des inneren Kreises der Einflussreichen ein. Er hat weniger Macht, aber er ist glücklicher. Er sucht nun ohnehin etwas Neues.

Die Frage ist: Wie kommt man gesund wieder raus aus dem Wahnsinn?

Die Antwort von Brigitte Ederer, 57: Vorstandssitz und Familie und Glück, man muss auf eines verzichten, die Fronten reduzieren.

Sie war eine der wenigen Frauen, die es in den Vorstand eines Dax-Konzerns geschafft haben. Ihr Aufstieg bei Siemens war steil und ihr Fall schnell, als die Österreicherin im Spätsommer vergangenen Jahres entlassen wurde im Zuge der Ablösung des Vorstandschefs Peter Löscher.

Über das Ende bei Siemens spricht Ederer nicht, wegen einer Vereinbarung mit dem Konzern. Aber sie kann erzählen, wie es ist, nach ganz oben zu gelangen – und dort zu leben in der dünnen Luft.

Als die Sozialdemokratin, Volkswirtin, Ex-Parlamentarierin und Ex-Staatssekretärin im Jahr 2005 mit 49 Jahren Chefin von Siemens Österreich wird, lernt sie: Der Sprung an die Spitze bringt Veränderungen mit sich, von denen kein Mensch weiß, was sie mit ihm machen. Die erste: „Man kann niemanden mehr fragen“, sagt Ederer. Man sei in gewissen Entscheidungen einfach die letzte Instanz und auf sich gestellt.

Die zweite Veränderung hängt damit zusammen: „Man läuft schnell Gefahr, einsam zu werden.“ Gute Freunde zu haben und zu pflegen sei wichtig. „Aber es werden immer weniger. Wenn du zum siebten Mal die Teilnahme an einer Feier absagst, die deinetwegen genau auf diesen Termin gelegt wurde, fragt dich keiner ein achtes Mal.“ Die dritte Veränderung, klar: Intriganten, Fallensteller, Neider, und eher früher als später kommt jemand und will deinen Job, um jeden Preis. Je höher die Etage, desto höher der Preis.

Man muss das aushalten, wie das Aushaltenkönnen überhaupt eine wichtige Qualifikation für Führungspositionen ist. Ederer hielt es aus und wurde belohnt. 2010 holte sie Siemens-Chef Peter Löscher nach München in den Konzernvorstand.

Wer eine solche Karriere verfolge, sagt Ederer, der habe ein Privileg: die Macht zu gestalten. Man müsse nur eines wissen: „So eine Karriere hat immer einen Preis. Immer.“ Ihren Mann, einen Europaabgeordneten, sah Ederer kaum noch, die sterbenskranke Mutter nur stundenweise. Und da ist noch ein anderer Preis: „der, keine Kinder zu haben, ganz klar“.

Jetzt hütet Ederer bisweilen die Kinder ihrer Nichten, zwei Kleinkinder. Es erstaunt sie, wie stark die beiden versuchen, ihren Willen durchzusetzen. „Das kostet richtig Kraft!“, sagt Ederer und lacht. Sie scheint mit sich im Reinen – obwohl die Kleinen nicht tun, was sie will. Mit Druck geht es nicht.